Samstag, 11. Juni 2011

Verfassung und Streik

Gut 9 Monate lebe und arbeite ich jetzt in Nepal, schwer vorstellbar wohin die Zeit verflogen sein soll. Während sich die Zeit zu Beginn sich auf Grund der vielen, neuen Erfahrungen tief ins Gedächtnis einprägte, so ist mittlerweile vieles, das mir zu Beginn neu war, alltäglich geworden. Der unübersichtliche Verkehr, die fremde Sprache, das Essen, meine Gastfamilie und ihr familiäres Umfeld ebenso wie „kulturelle“ Normen, Hochzeiten und andere Festlichkeiten, Religion und Ritus.

Tansen mit "White Lake"
Bevor ich mich September letzten Jahres ins Flugzeug setzte, durchsuchte ich im Laufe meiner Vorbereitungen auch das Internet nach Blogs damaliger Freiwilliger und war verwundert, dass mehr als einer nach der Halbzeit jegliche neuen Einträge entbehrte. Mittlerweile kann ich mich ganz gut in diese Situation einfühlen. Selbst die seltsamsten Dinge, die man beobachtet, erscheinen nach gut 9 Monaten, wenn auch nicht normal so doch zumindest gewohnt, alltäglich und nachvollziehbar. Und da ist es völlig egal, ob es plastikfressende Straßenhunde oder eine Streikkultur ist, bei denen gelegentlich nicht einmal klar erscheint, wofür man eigentlich streikt. Abgesehen davon, dass ich an bestreikten Tagen, also an Tagen an denen (fast) alle Geschäfte und Läden geschlossen bleiben, trotzdem sämtliche Kollegen auf meiner Arbeitsstelle vortreffe, die, auch wenn kaum Patienten kommen werden - schließlich denkt jeder, alles sei geschlossen - nicht auf den Gedanken kommen, daheim zu bleiben. Schließlich ist es ein normaler Arbeitstag, bloß eben ohne Arbeit.

Aber eins nach dem anderen. Seit meinem letzten Bericht ist so einiges passiert. Wir hatten unser Zwischenseminar, ich habe gelernt, was es heißt krank zu sein, hatte eine wunderbare Zeit mit Janina und meinen Eltern, meine Gastschwester heiratete und meine Gasteltern reisten zum ersten Mal in ihrem Leben für zwei Wochen nach Indien, wo sie an einem religiösen Treffen teilnahmen. (Seitdem sind auch Knoblauch und Zwiebeln in unserer Küche Tabu.) Dazu gibt’s dann Fotos.

Aber zu Streik, Verfassung und den aktuellen Problemen meiner Organisation. Denn wie es nun mal so ist, kommt ein Übel bekanntlich selten allein. (Ich möchte gleich zu Beginn anmerken, dass ich Ereignisse meiner Organisation stets um eine Ecke, und stark subjektiv aus der Sicht der Mitarbeiter erlebe, da sich mein nicht unredliches Nepali sich leider nicht auf offizielle Briefe und Mitteilungen erstreckt und ich wenig Kontakt zur Führungsetage in der Hauptstadt habe.) Angefangen hat es irgendwann Mitte April, als meine Kollegen anfingen sich darüber zu unterhalten, was sie denn machen würden, wenn unsere Organisation nicht mehr wäre. Auch traten sie mit der Frage an mich, ob es nicht möglich wäre, sie mit nach Deutschland zu nehmen oder unsere Zweigstelle durch einen neuen deutschen Spender abzusichern.

Diese Fragen haben mich damals ziemlich überrumpelt und aus der Bahn geworfen. Wie kommt es, dass ein 35 jähriger Kollege mich bittet für unser Büro und unsere Klinik, also für gut 10 Menschen, das Geld bereit zu stellen oder einen Spender zu finden? Welche Erwartungen wurden in diesem Moment in mich gesetzt und welches Bild vom „reichen Westen“ wurde auf mich projiziert?
Aussichtsplattform auf dem Hausberg Shrinagar
Natürlich fragte ich nach, wie es denn dazu kommen würde, dass sie sich auf einmal Gedanken über ihre Jobs machen würden. Zu diesem Zeitpunkt hieß es nur, dass es ein paar Ungereimtheiten gäbe und unsere NGO (wohlgemerkt immer noch eine der größten Nepals) eventuelle bald nicht mehr bestehen würde. Nun war es, meines Wissen wie folgend. Gegen Anfang dieses Jahres regte unsere Spenderorganisation (eine international agierender Zusammenschluss im Bereich der Familienplanung) einige Änderungen in der Satzung meiner Partnerorganisation an (oder forderte diese) und kritisierte die Nichteinhaltung einiger anderer. Um welche Punkte es sich genau handelt, ist mir leider nicht klar, jedoch wurde zumindest ein Verbot der Rekrutierung jeglicher Familienmitglieder und die Begrenzung der Arbeit eines Ehrenamtlich auf 15 Jahre gefordert. Der Präsident des zentralen Komitees ebenso wie der des lokalen hier in Tansen haben diese Grenzen bereits überschritten. Eine Neuwahl dieser Gremien ist folglich nach Änderung der Satzung zusätzlich nötig. Die gesetzte Frist lief aus, ohne dass etwas geschah. Die Spenderorganisation genehmigte das Budget für 2011 nicht, außer den laufenden Kosten der Kliniken und Mitarbeiter gab es keine Gelder mehr für Projekte. Meine Kollegen und ich saßen also erst einmal Däumchen drehend da. Die Unsicherheit, was nun geschehen würde, war mit Händen zu spüren. Täglich wurde die Zeitung nach anderen Jobangeboten durchsucht, ich half dreien meiner Kollegen beim Anfertigen eines neuen Lebenslaufes. Es wurde eine Vollversammlung der Ehrenamtlichen abgehalten – ich hatte ziemlich viele Hoffnungen in sie gesetzt – ohne Ergebnisse. Keiner wusste, wie es weitergehen sollte. (Mein Chef musste von seinem Plan Zweigstellenleiter in Rupandehi zu werden, einem deutlich größeren Distrikt im Terrai, Abschied nehmen, da bis auf weiteres keinerlei personellen Änderungen vorgenommen werden. Meiner Meinung nach besonders bitter, da seine Frau und seine beiden Kinder bereits nach Butwal gezogen sind und die Wohnung aufgegeben wurde. So schläft mein Chef jetzt im Büro und isst im Restaurant.) Schließlich wurde das Zentrale Komitee um Rücktritt gebeten, Unterschriftenlisten wurden geschrieben, die Mitarbeiter der Hauptstelle streikten und zogen mit der Bitte um Hilfe zum Gesundheitsministerium, so die Erzählung. Ich bin mir nicht sicher, ob für eine Woche oder nur für einige Tage gestreikt wurde, wir für uns in Tansen streikten für einen Tag, was dann bedeutete, dass das Büro geschlossen war, die Klinik jedoch geöffnet. De Facto fällt es mir äußerst, schwer einen bestreikten Tag von einem normalen Arbeitstag zu unterscheiden. Denn seit es keine Programme mehr gibt, fällt in der „Administration“ nur wenig Arbeit an und die Klinik ist, zum Wohle der Patienten, immer geöffnet. Die freudige Nachricht, mit Hilfe des Ministeriums sei ein Aktionsplan erstellt worden, hielt nur kurz, denn keine Woche später wurden der Director General und die Finanzleitung entlassen. Von nun an rief der Betriebsrat zum Streik auf, einige andere Zweigstellen schlossen komplett von überall fuhren Vertreter nach Kathmandu, so auch 2 meiner Kollegen.


Es begab sich aber auch zu dieser Zeit, dass die Verfassung Nepals geschrieben worden sein sollte, um die Übergangsverfassung von 2008 abzulösen. Nun verhielt es sich so, dass sich die Parteien nicht einigen konnten und die Verfassung bei weitem nicht vollendet war. Einige sprachen von etwa 90% andere glaubten, nicht mehr als die Hälfte der Verfassung sei fertiggestellt. Und das, obwohl die in der Übergangsverfassung veranschlagte Zeit von 2 Jahren bereits Ende Mai 2010 auslief und nur eine Änderung der Verfassungsversammlung Aufschub bot. Schon damals hatte es wochenlange Generalstreiks und Krawalle gegeben, weshalb der Mai 2011 von Nepalis und besonders von meiner Partnerorganisation als kritisch bewertet und ambivalent erwartet wurde. Es wurde von unserer deutschen Organisation darauf hingewiesen sich mit Lebensmitteln einzudecken, große Menschenansammlungen zu meiden, das Telefon bereit und funktionsfähig zu halten und sich bei Reisen bitte mit der Zentrale abzustimmen. Nach derartiger Ankündigung erwarteten wir gespannt den Tag, an dem die Verfassung in Kraft treten sollte und nicht würde, soviel stand fest. Bereits die Woche zuvor begannen gelegentliche Bandhas, Streiks, bei denen keinerlei Fahrzeuge fuhren und die meisten Läden schlossen. Aber auch nicht alle. Gelegentlich wurden Streiks angekündigt, fanden aber nicht statt. An den Stammläden konnte man klopfen und schon wurde einem freundlichst geöffnet, die Kinder spielten auf der Straße und keine wütenden Meuten waren in Sicht. Tansen war ein Ort der Ruhe und des Friedens. Keine Hupe war zu hören, alle liefen, da keine Busse fuhren. Meine Kollegen waren dennoch alle im Büro, auch wenn es nichts zu arbeiten gab. Aber das passiert hier eben gelegentlich. Ich ließ lieber das Kind aus meinem Innersten und spielte Badminton auf der Straße und ging spazieren. In Kathmandu, dem Brennpunkt der Politik in Nepal, gab es allerdings Demonstrationen, Gewalt um die Streiks mit Nachdruck durchzusetzen und ein bisschen Krawall gab es am Verfassungstag auch (4 Autos fielen den wütenden Gruppen zu Opfer und brannten aus).

Und wie geht es weiter? Die drei größten Parteien haben sich auf einen Kompromiss geeinigt, nachdem die Zeit für die Verfassung erneut um 3 Monate verlängert wird und der Premierminister zurücktritt. Meiner bescheidenen und der Meinung meiner Umgebung nach wird sich in diesen kurzen 3 Monaten, die ich hier noch verweilen werde, kaum etwas ändern. Besonders wenn man sich erinnert, dass zur Wahl des aktuell/ehemaligen Premierministers bereits letztes mal 16 erfolglose Wahlgänge nötig waren, die mindestens ein halbes Jahr in Anspruch nahmen. Wo bleibt da die Zeit, sich überparteilich mit der Verfassung zu beschäftigen?

Und meine Organisation? Es gibt Grund zu kleinem Jubel – hoffentlich, das weiß ich hier meist erst nachher – Das Kabinett hat das Zentrale Komitee abgesetzt, mit einem Parlamentsbeschluss. Ich musste grinsen als ich davon hörte. Könnte was werden diesmal. Heute ist erneut eine Vollversammlung der Ehrenamtlichen, vielleicht ist die Zeit des Wartens ja vorbei?

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