Gut 9 Monate lebe und arbeite ich jetzt in Nepal, schwer vorstellbar wohin die Zeit verflogen sein soll. Während sich die Zeit zu Beginn sich auf Grund der vielen, neuen Erfahrungen tief ins Gedächtnis einprägte, so ist mittlerweile vieles, das mir zu Beginn neu war, alltäglich geworden. Der unübersichtliche Verkehr, die fremde Sprache, das Essen, meine Gastfamilie und ihr familiäres Umfeld ebenso wie „kulturelle“ Normen, Hochzeiten und andere Festlichkeiten, Religion und Ritus.
Tansen mit "White Lake" |
Aber eins nach dem anderen. Seit meinem letzten Bericht ist so einiges passiert. Wir hatten unser Zwischenseminar, ich habe gelernt, was es heißt krank zu sein, hatte eine wunderbare Zeit mit Janina und meinen Eltern, meine Gastschwester heiratete und meine Gasteltern reisten zum ersten Mal in ihrem Leben für zwei Wochen nach Indien, wo sie an einem religiösen Treffen teilnahmen. (Seitdem sind auch Knoblauch und Zwiebeln in unserer Küche Tabu.) Dazu gibt’s dann Fotos.
Aber zu Streik, Verfassung und den aktuellen Problemen meiner Organisation. Denn wie es nun mal so ist, kommt ein Übel bekanntlich selten allein. (Ich möchte gleich zu Beginn anmerken, dass ich Ereignisse meiner Organisation stets um eine Ecke, und stark subjektiv aus der Sicht der Mitarbeiter erlebe, da sich mein nicht unredliches Nepali sich leider nicht auf offizielle Briefe und Mitteilungen erstreckt und ich wenig Kontakt zur Führungsetage in der Hauptstadt habe.) Angefangen hat es irgendwann Mitte April, als meine Kollegen anfingen sich darüber zu unterhalten, was sie denn machen würden, wenn unsere Organisation nicht mehr wäre. Auch traten sie mit der Frage an mich, ob es nicht möglich wäre, sie mit nach Deutschland zu nehmen oder unsere Zweigstelle durch einen neuen deutschen Spender abzusichern.
Diese Fragen haben mich damals ziemlich überrumpelt und aus der Bahn geworfen. Wie kommt es, dass ein 35 jähriger Kollege mich bittet für unser Büro und unsere Klinik, also für gut 10 Menschen, das Geld bereit zu stellen oder einen Spender zu finden? Welche Erwartungen wurden in diesem Moment in mich gesetzt und welches Bild vom „reichen Westen“ wurde auf mich projiziert?
Aussichtsplattform auf dem Hausberg Shrinagar |
Es begab sich aber auch zu dieser Zeit, dass die Verfassung Nepals geschrieben worden sein sollte, um die Übergangsverfassung von 2008 abzulösen. Nun verhielt es sich so, dass sich die Parteien nicht einigen konnten und die Verfassung bei weitem nicht vollendet war. Einige sprachen von etwa 90% andere glaubten, nicht mehr als die Hälfte der Verfassung sei fertiggestellt. Und das, obwohl die in der Übergangsverfassung veranschlagte Zeit von 2 Jahren bereits Ende Mai 2010 auslief und nur eine Änderung der Verfassungsversammlung Aufschub bot. Schon damals hatte es wochenlange Generalstreiks und Krawalle gegeben, weshalb der Mai 2011 von Nepalis und besonders von meiner Partnerorganisation als kritisch bewertet und ambivalent erwartet wurde. Es wurde von unserer deutschen Organisation darauf hingewiesen sich mit Lebensmitteln einzudecken, große Menschenansammlungen zu meiden, das Telefon bereit und funktionsfähig zu halten und sich bei Reisen bitte mit der Zentrale abzustimmen. Nach derartiger Ankündigung erwarteten wir gespannt den Tag, an dem die Verfassung in Kraft treten sollte und nicht würde, soviel stand fest. Bereits die Woche zuvor begannen gelegentliche Bandhas, Streiks, bei denen keinerlei Fahrzeuge fuhren und die meisten Läden schlossen. Aber auch nicht alle. Gelegentlich wurden Streiks angekündigt, fanden aber nicht statt. An den Stammläden konnte man klopfen und schon wurde einem freundlichst geöffnet, die Kinder spielten auf der Straße und keine wütenden Meuten waren in Sicht. Tansen war ein Ort der Ruhe und des Friedens. Keine Hupe war zu hören, alle liefen, da keine Busse fuhren. Meine Kollegen waren dennoch alle im Büro, auch wenn es nichts zu arbeiten gab. Aber das passiert hier eben gelegentlich. Ich ließ lieber das Kind aus meinem Innersten und spielte Badminton auf der Straße und ging spazieren. In Kathmandu, dem Brennpunkt der Politik in Nepal, gab es allerdings Demonstrationen, Gewalt um die Streiks mit Nachdruck durchzusetzen und ein bisschen Krawall gab es am Verfassungstag auch (4 Autos fielen den wütenden Gruppen zu Opfer und brannten aus).
Und wie geht es weiter? Die drei größten Parteien haben sich auf einen Kompromiss geeinigt, nachdem die Zeit für die Verfassung erneut um 3 Monate verlängert wird und der Premierminister zurücktritt. Meiner bescheidenen und der Meinung meiner Umgebung nach wird sich in diesen kurzen 3 Monaten, die ich hier noch verweilen werde, kaum etwas ändern. Besonders wenn man sich erinnert, dass zur Wahl des aktuell/ehemaligen Premierministers bereits letztes mal 16 erfolglose Wahlgänge nötig waren, die mindestens ein halbes Jahr in Anspruch nahmen. Wo bleibt da die Zeit, sich überparteilich mit der Verfassung zu beschäftigen?
Und meine Organisation? Es gibt Grund zu kleinem Jubel – hoffentlich, das weiß ich hier meist erst nachher – Das Kabinett hat das Zentrale Komitee abgesetzt, mit einem Parlamentsbeschluss. Ich musste grinsen als ich davon hörte. Könnte was werden diesmal. Heute ist erneut eine Vollversammlung der Ehrenamtlichen, vielleicht ist die Zeit des Wartens ja vorbei?